Presseartikel über eine Deutschvorlesung am RMG

DABEI WAREN ES DOCH NUR 75 TOTE

Was hat die Atomkatastrophe von Tschernobyl mit einer 137 Jahre alten Ballade von Theodor Fontane zu tun? Nichts, möchte man meinen. Doch nach einer Stunde Deutschunterricht wissen es die Schüler der 11. Klasse am Regiomontanus-Gymnasium in Haßfurt besser. 45 Minuten lang analysiert Lehrer Simon Sperl exakt am 30. Jahrestag des nuklearen Supergaus in der Ukraine, am 26. April, Fontanes „Die Brück am Tay“. Und interpretiert die Ballade als Kritik an einem „nicht hinterfragten technisch-ökonomischen Fortschrittsdenken“, das in die Katastrophe führte. Ähnlich wie 1986 in Tschernobyl oder 2011 in Fukushima.

Das Unglück von Tay erscheine heute vergleichsweise harmlos, spricht Studienrat Sperl ins Mikrofon, damit ihn auch die Jugendlichen in der letzten Bankreihe hören. Doch zu seiner Zeit sei es als ähnliche Katastrophe empfunden worden wie 32 Jahre später der Untergang der Titanic. Am 28. Dezember 1879 war bei einem Orkan über Schottland die erst ein Jahr zuvor fertiggestellte und als Wunderwerk der Technik gepriesene Eisenbahnbrücke über den Fjord von Tay (Firth of Tay) zusammengebrochen und hatte einen Zug mitsamt 75 Menschen ins Verderben gerissen. Gut sechs Menschengenerationen später beginnen Lehrer Sperls Zuhörer zu ahnen, dass Fontanes Verarbeitung des Desasters von zeitlos gültiger Botschaft ist: Mag der Mensch noch so sehr glauben, dank seines Verstandes, dank Naturwissenschaft und Technik die Welt zu beherrschen – die Natur oder welch höhere Mächte auch immer können ihm da ganz schnell einen Strich durch die Rechnung machen.

In „Die Brück am Tay“ macht Fontane jene Hexen zu den Zerstörern, die 1611 ihren ersten großen Auftritt bei der Uraufführung von Macbeth hatten. Sie verabreden sich zu Beginn der Ballade an der Brücke, um sie zu vernichten, und stehen in den letzten Verszeilen für den Sieg des Irrationalen über die Vernunft, der Natur über Mensch und Maschine. Studienrat Sperl kann somit den Bogen zurück von Fukushima bis zum großen englischen Dramatiker William Shakespeare spannen, der heuer seinen 400. Todestag hat.

Und seine über 100 Schüler aus allen Deutschkursen der 11. Klasse (Q11) beginnen, das Werk in seinen geschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen, aber auch in seiner Eigenheit zu verstehen. Genau das ist der Zweck der Vorlesung im „Silberfisch“-Mehrzweckgebäude, die zu einer Vorlesungsreihe gehört, welche die Abiturvorbereitung im Fach Deutsch am Regiomontanus-Gymnasium ebenso einzigartig wie erfolgreich macht: Erfolgreich deshalb, weil die Haßfurter Abiturienten, seit es den Vorlesungszyklus gibt, Jahr für Jahr im Deutsch-Abi signifikant besser abschneiden als der Bayerndurchschnitt. Das zumindest versichert die Schule.

Mit der Einzigartigkeit, die sich damit erklärt, dass der jahrgangs- und kursübergreifende Vorlesungsbetrieb eine Haßfurter Erfindung ist, könnte es allerdings bald vorbei sein: Das Konzept, das Werner Lorenz, damals Deutsch-Fachbetreuer und heute Mitglied der Schulleitung, und sein inzwischen an die Uni Bamberg gewechselter Kollege Michael Rödel entwickelt haben, hat das Interesse anderer Gymnasien geweckt. Es schaut danach aus, als würden andere Schulen das Konzept alsbald übernehmen.

Lorenz und Rödel hatten vor sieben Jahren die Idee, beim Marsch aufs Abitur für die Q11 und Q12 den großen Block Literaturgeschichte aus den einzelnen Kursen herauszunehmen und für alle Schüler als zentrale Vorlesungsveranstaltung anzubieten. Sowohl in der K11 als auch in der K12 haben die angehenden Abiturienten vier Stunden Deutschunterricht pro Woche. Zu einer Unterrichtsstunde, zu den Literatur-Vorlesungen, kommen alle Kurse zusammen und bekommen geballtes Wissen vermittelt: Dann ist jeweils eine Lehrkraft für den gesamten Jahrgang verantwortlich und enthüllt zum Beispiel des Pudels Kern in Goethes Faust, gibt Einblicke in die Exilliteratur, stellt ein Werk vor, das typisch für das literarische Schaffen der Nachkriegszeit ist oder referiert über Romantik, Avantgarde oder Expressionismus.

Schon 2010, als das Projekt anlief, hatten die beiden Protagonisten Lorenz und Rödel darauf hingewiesen, dass sich die Vorteile ihrer Vorlesungen keinesfalls mit der konzentrierten Vermittlung von abiturrelevantem Wissen erschöpfen. Gerade der „Vorlesungsbetrieb“ bereite die jungen Menschen auf ein mögliches Universitätsstudium vor und schule jene Kompetenzen, die hier verlangt werden – das genaue Zuhören und Erfassen eines komplexen Vortrags, nebenher die eigenverantwortliche Mitschrift mitsamt den hierzu nötigen spontanen Formulierungen. „Wir denken aber auch an alle, die nicht studieren“, sagte Werner Lorenz dieser Tage zum HT: Konzentrieren, Mitdenken, Mitschreiben seien auch für sie wichtige Fähigkeiten. Ferner entlasteten die Vorlesungen den sonstigen im Kursverband gehaltenen Deutschunterricht – wodurch die Pädagogen mehr Freiräume haben, zum Beispiel an der schriftlichen Ausdrucksfähigkeit ihrer Schützlinge zu feilen.

Studiendirektor Lorenz freut sich darüber, dass die Fachschaft Deutsch von Anfang an mit Begeisterung bei dem Projekt dabei war – und bis heute ist. „Wir arbeiten als ein Team – und anders wäre das auch gar nicht möglich“, erklärt Lorenz. Dabei müssen sich die Lehrkräfte nicht nur einigen, wer zu welchem Thema spricht, sie entwerfen auch gemeinsame Klausuren für ihre Kurse – davon gab es in der Q12, für die am Freitag das Abitur beginnt, acht, ebenso in der Q11. Im letzten Halbjahr, kurz vor der Reifeprüfung, schreiben alle angehenden Abiturienten die letzte Klausur unter realen Abiturbedingungen: Aufgabenangebot, Arbeitszeit und das ganze Drumherum wie das Layout der Prüfungsaufgaben sind dann so, wie es kurze Zeit später im Ernstfall kommt: Ein Kraftakt für Lehrer und Schüler, der sich aber lohne. „Dann fühlen sich die Schüler im echten Abi wie daheim“, meint Lorenz, was sich hier dann auch in den Leistungen positiv bemerkbar mache.

Am Anfang des Projektes sei es nicht ganz einfach gewesen, „aus der geschützten Deckung des Klassenzimmers herauszukommen“, geben die beiden Deutschlehrer Aimee Waha und Paul Pogorzalek zu: Beim Vorlesungsunterricht erhöht sich nicht nur die Zahl der Schüler um ein Vielfaches – es sitzen auch die Kollegen in der Bank und hören kritisch zu. Aber Berührungsängste gebe es schon lange keine mehr. Im Gegenteil, für sie seien die Vorträge ihrer Kollegen eine Bereicherung, erklärt Aimee Waha, die neben Deutsch Englisch unterrichtet. Wer beispielsweise die Fächer Deutsch und Geschichte gebe, sehe auch die Literatur oftmals in anderen, eben historischen Zusammenhängen, etwa wenn es um das literarische Werk des Vormärz, jener Zeit zwischen Wiener Kongress (1815) und der gescheiterten Märzrevolution 1848 gehe. Auch Paul Pogorzalek schätzt den intensiven Austausch, den die Deutschlehrer vor ihren Vorlesungen pflegen, und die „gegenseitige fachwissenschaftliche Bereicherung“.

Für die Haßfurter Gymnasiasten gehört diese besondere Art Deutschunterricht in ihren letzten beiden Schuljahren inzwischen vermutlich schlicht und einfach zum Schulalltag, über den man als 17- oder 18-Jähriger ansonsten nicht weiter nachdenkt. Interessant ist aber, dass es durchaus junge Männer und Frauen aus den Haßbergen gibt, die andere Gymnasien der Region besuchen. Und die ihre Haßfurter Kameraden eben um diesen Deutschunterricht beneiden, der sich nicht nur unter Lehrern, sondern auch unter Schülern herumgesprochen hat.

Überhaupt: Lässt sich diese Art des kursübergreifenden Unterrichts nicht auf andere Fächer übertragen? Studiendirektor Lorenz ist da vorsichtig, möchte nicht für andere Fachschafen sprechen – aber auch nicht ausschließen, dass es vergleichbare Modelle auch außerhalb des Deutschunterrichts geben kann. Studienrätin Waha kann sich das Vorlesungsprojekt für ihr zweites Fach Englisch weniger gut vorstellen, weil die Prüfungsthemen im Abitur hier vielfältiger sind – sie können zum Beispiel auch aus dem Bereich Landeskunde kommen.

Im Deutschabitur aber dreht sich immer alles um Literatur. Und da ist es für das Auditorium von Studienrat Simon Sperl am Dienstag, dem 30. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, auch wichtig, sich zu notieren, dass Fontanes Ballade „Die Brück am Tay“ zum poetischen Realismus zählt. Sie behandelt ein reales Ereignis, den Einsturz der Tay-Brücke samt Eisenbahnkatastrophe. Aber, weil der Dichter keine schlüssige Antwort auf das Geschehen findet, sich die Welt nicht mehr so erklären lässt, wie es sich die Aufklärung vorgestellt hat, verklärt er das Geschehene – in einer Art resignierenden Antwort – poetisch.

Martin Sage (HT vom 27.04.2016)